Direkt zum Hauptinhalt

4.4 GemÖk als Gegenentwurf zur Familie

Füreinander emotional, materiell und finanziell zu sorgen – dafür gelten in der kapitalistischen Gesellschaft die Herkunftsfamilie und monogame romantische Zweierbeziehung als die am besten geeigneten Beziehungsformen. Privatisiertes gegenseitiges Pflegen, materielle Versorgung und das potenzielle Vererben von Vermögen innerhalb von Familien sind gesetzlich vorgesehen. Darüber hinaus wird es in der Gesellschaft als selbstverständlich angesehen, dass sich die Familie und romantische Partner*innen um diese Aufgaben kümmern. Die (finanzielle) Sorge wird somit als Merkmal der Familie naturalisiert, das heißt als natürlich gegeben angesehen. Aber es gibt auch andere Beispiele gegenseitiger Fürsorge:

  • Zahlreiche indigene Gruppen lebten vor der Kolonisierung (und teilweise bis heute) in Gemeinschaften, die den Rahmen der heterosexuellen, monogamen Kernfamilie sprengen: Hierzu gehört etwa die kollektive Erziehung von Kindern, das Einbeziehen der nicht-menschlichen Umwelt in die Gemeinschaft und Formen von Polygamie.
  • Viele Personen, die in Armut leben, bauen sich Unterstützungsnetze auf der Grundlage von Freund*innenschaft und Nachbar*innenschaft auf. Hohen Lebenshaltungskosten und niedrigen, unregelmäßigen Einkommen kann man teilweise nur entgegenwirken, indem sich der Kreis an Menschen, mit denen Besitz geteilt wird, von der Kernfamilie auf größere Personenkreise erweitert.
  • Queere Personen – insbesondere diejenigen, die in der Geschichte selbst von queerfeministischen Bewegungen zurückgelassen wurden (z. B. Transpersonen, nichtbinäre Menschen und Queers of Colour) – sind überdurchschnittlich oft von Ausgrenzung aus der Herkunftsfamilie betroffen. Viele organisieren ihr Leben deswegen in sogenannten »Wahlfamilien«, die das Zusammenleben neu denken und erproben. Manche dieser »Wahlfamilien« nähern sich heteronormativen Skripten an (beispielsweise der legalisierten gleichgeschlechtlichen Ehe). Andere queere Communities beruhen jedoch weniger auf geschlechtsspezifischen, romantischen oder biologistischen Hierarchien.
  • Die West-Berliner »Prololesben« organisierten sich in den späten 1980er und frühen 90er Jahren. Zwei Jahre lang führten sie ein anonymes Umverteilungskonto als Sicherheitsnetz für Lesben, die sich in einer prekären finanziellen Situation befanden, aber keine materielle Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie erhielten.

All diese Gruppen erschufen und erschaffen sich jene Strukturen, die von Herkunftsfamilien gemeinhin erwartet werden. GemÖks reihen sich in diese Beispiele ein. Sie können Netze gegenseitiger Unterstützung sein, die nicht auf Verwandtschaft oder Ehe aufbauen. Manche würden sagen, die Mitglieder der eigenen GemÖk sind »wie Familie«. Dabei ist es wichtig, dass wir uns fragen, welche Aspekte der Familie schön und wichtig sind – z.B. gegenseitige Fürsorge – und welche Aspekte wir eigentlich überwinden möchten. Das Ziel der GemÖk wäre damit eben nicht, wie die Familie zu sein, sondern über sie hinauszuwachsen.