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5.2 Im Prozess

5.2.1 Verjährung

In einzelnen Fällen ist schon die Verjährung eingetreten. Das kommt für uns einer Einstellung gleich. Für die meisten Ordnungswidrigkeiten, die für uns Infragekommen, ist die Verjährungsfrist 6 Monate, da die maximale Höhe 1000€ ist (§31 OWiG). Welche Ordnungswidrigkeit dir vorgeworfen wird findest du in deinem Bußgeldbescheid und dann wenn du diese Ordnungswidrigkeit (z.B.: § 29 I Nr. 2 VersG) nach guckst (einfach in Suchmaschine eingeben) findest du im Gesetz (häufig ganz unten) die maximale Strafe.

ABER diese Frist beginnt immer wieder neu (§33 OWiG). Von einigen Prozessen, die die Verjährung neu beginnen lassen, kannst du gar nichts mitbekommen (z.B.: Übergabe der Akten ans Gericht). Als Faustregel, wenn mehr als 6 Monate zwischen zwei Briefen oder dem Protest und dem ersten Brief vergangen sind, könnte es verjährt sein. Dann müssen wir die Akte genauer anschauen. In manchen Fällen fehlen die Briefe in der Akte, dann kann das Gericht nicht nachweisen, dass es nicht verjährt ist und das Gericht stellt das Verfahren ein.

Unsere Empfehlung ist, immer Verjährung anzusprechen, wenn deutlich über 6 Monate seit dem Protest vergangen sind.

 

5.2.2 Anwesenheit

Häufig gibt es keine Bilder in der Akte. Dann kann deine Anwesenheit nicht bewiesen werden. Dass deine Personalien aufgenommen worden sind, reicht den Richter*innen i.d.R. nicht aus(zumindest, wenn die Polizei nicht als Zeug*innen da sind, um den Prozess darzulegen). Hier musst du dir überlegen, was dir wichtig ist. Aus Repressionsvermeidung ist es häufig klug, gar keine Angaben zu dem Tag zu machen. Wenn die Akte so schlecht ist, dass deine grundsätzliche Anwesenheit nicht bewiesen werden kann, findet man i.d.R. Auch genügend andere Angriffspunkte.

 

5.2.3 Beschränkung

Die Prüfung der Beschränkung und Auflösung stellen die Kernpunkte der Verhandlung dar. Für eine Auflösung darf eine Beschränkung nicht ausreichen. Im Bundesversammlungsgesetz folgt es daraus, dass es einen geringen Grundrechtseingriff darstellt und aus dem Übermaßverbot, in Berlin ist es in §14III VersFG BE geregelt. Daher muss in der Regel eine Beschränkung einer Auflösung vorausgehen.

5.2.3.1 Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (oder Ordnung)

Für eine Beschränkung muss eine unmittelbare Gefahr für die Öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen (§15 I VersammlG; §14I VersFG Berlin).

Die Öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, [… ], sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung […] (BVerfG NJW 1985, 2395). Für uns relevant ist, dass blockierte Autofahrer*innen als Gefahr für die öffentliche Sicherheit zählen, da sie in ihrer Freiheit eingeschränkt sind. Wenn eine Straftat droht (z.B.: Nötigung §240 StGB) ist dies eine Gefahr für die Unversehrtheit der Rechtsordnung und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Die öffentliche Ordnung ist für uns relativ unwichtig, da aufgrund einer Gefahr für die öffentliche Ordnung eine Versammlung fast nie aufgelöst werden kann. In Berlin ist öffentliche Ordnung gar nicht mehr als Grund aufgeführt. Öffentliche Ordnung meint die Summe aller ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden, mit den Werten des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes betrachtet wird (BVerfG NvVZ 2008, 671).

Unmittelbar ist die Gefahr in diesem Zusammenhang, wenn eine konkrete Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (BVerfG NVwZ 2008, 671). Eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden eintritt reicht aus (BVerfG NvvZ 1998, 834).

Für uns relevant ist vor allem, dass in der Akte (oder durch Zeug*innen) dargelegt werden muss, dass es eine (erhebliche) Beeinträchtigung des Fließverkehrs gab oder dieser absehbar war. Ein allgemeiner Vermerk in der Akte, dass es dies gab, reicht i.d.R. zum Beweis nicht aus.

5.2.3.2 Verhältnismäßigkeit der Beschränkung

Die Beschränkung muss aber auch verhältnismäßig sein. Das folgt daraus, dass die Behörde ein Ermessen hat („kann“ in §15 VersammlG bzw. §14 VersammlFG BE) und dies entsprechend dem Gesetz ausüben muss (§40 VwVfG). Eine Anordnung ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen ist.

In der Regel werden Menschen auf den Gehweg verwiesen, damit sie den Fließverkehr nicht mehr beeinträchtigen. Diese Beschränkung ist in der Regel geeignet, die Gefahr (Verkehr kann nicht fließen) zu beheben.

Deutlich wichtiger ist die Erforderlichkeit. Hier muss geprüft werden, ob eine Beschränkung mit einem geringeren Eingriff ausgereicht hätte, um die Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Es muss also geprüft werden, ob die Beschränkung das mildeste Mittel war. Beispielsweise wäre die Beschränkung, dass die Versammlung nur auf einer Fahrspur stattfinden darf (wenn es mehrere gibt) ein milderes Mittel gegenüber einer Verlegung auf den Fußgängerweg. Häufig kann nicht nachgewiesen werden, dass es bei solchen milderen Beschränkungen immer noch zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Fließverkehrs kommen würde.

Die Beschränkung müsste angemessen sein. Daher darf der Grundrechtseingriff (deine Versammlungsfreiheit) nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen (Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer*innen). Außer Verhältnis würde es stehen, wenn die Autofahrer*innen nur einen kurzen Umweg fahren müssten.

5.2.3.3 Zuständige Behörde

Die Entscheidung muss von der zuständigen Behörde entschieden worden sein. Dies ist nach Beginn der Versammlung i.d.R. eine Polizeibehörde. Welche es genau ist, ist von Land zu Land verschieden (Kapitel 8). Wichtig ist, dass wir deshalb Informationen brauchen, über den Menschen, welcher die Versammlung aufgelöst hat. In der Akte ist häufig nicht angegeben, wer die Versammlung aufgelöst hat. Zu prüfen ist dann, ob die Polizist*in der zuständigen Polizeibehörde angehört hat. In Berlin ist einfach die Polizei zuständig, da gibt es leider für Berlin relativ wenig zu argumentieren. In anderen Bundesländern ist es eine Orts oder Kreisbehörde und daher muss dann bekannt sein in welcher Orts- oder Kreisbehörde die Polizist*in, die die Versammlung aufgelöst hat, arbeitet. 

5.2.3.4 Anhörung und Kooperation

Nach §28 I VwVfG ist eigentlich eine Anhörung des Veranstalters nötig. Allerdings kann sie nach §28 II Nr. 1 VwVfG bei Gefahr im Verzug entfallen. Außerdem kann sie nach §45 I VwVfG geheilt werden. Wir haben noch nie von einer erfolgten nachträglichen Heilung gehört. Es muss also nachgewiesen werden, dass eine Gefahr im Verzug vorlag. Das ist allerdings i.d.R. bei Maßnahmen vor Ort der Fall.

Für die Polizei und Veranstalter gilt das Kooperationsgebot. Wenn die Polizei nicht der Kooperation nachkommt, ist das ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Eine erfolgreiche Kooperation ist immer das mildere Mittel gegenüber Beschränkungen, Verboten und Auflösungen, daher ist die fehlende Bereitschaft der Polizei zur Kooperation ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (Versammlungsrecht Dürig-Friedl/ Enders §14 Rn, 33).

Auch das Nichtvorhandensein eines Leiters oder Veranstalters schließt nicht den Kooperations- und Deeskalationsgrundsatz aus (VersFG BE Kommentar Knape §4 Rn 39). In der Akte sind fast nie Ausführungen zu Kooperationsversuchen der Polizei. Daher kann dies häufig als Indiz der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme genutzt werden.

Wenn der Veranstalter dem Kooperationsgebot nicht nachkommt, muss er Maßnahmen gegen die Versammlung hinnehmen, wenn diese darauf beruhen, dass die Polizei nur unzureichende Prognosen anfertigen kann oder keine Vorbereitungen treffen kann. Für uns ist wichtig, dass falls die Versammlung (bzw. deren Leiter) als unkooperativ angesehen wird, dies nur Maßnahmen rechtfertigt, wenn die mangelnde Kooperation unzureichende Prognosen oder Vorbereitungen begründet. Dass aus Sicht des Gerichtes mangelhaft kooperiert wurde, reicht nicht als Grund für Maßnahmen gegen die Versammlung aus. 

5.2.3.5 Form

Beschränkungen müssen begründet werden und gegenüber dem Teilnehmer*innen bekanntgegeben werden. In Berlin folgt es aus dem Gesetz (§14 V VersFG BE), im Bund leider nicht. Hierbei kann man auf Kommentare, (Düring-Friedl/ Enders Versammlungsrecht 2022, §15 Randnummer 114) verweisen. Die Begründung darf kurz sein. Um das zu prüfen, benötigen wir den Wortlaut der Beschränkung, welcher sich häufig nicht in der Akte findet.

 

5.2.4 Auflösung

Das Gericht ist verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Auflösung zu prüfen (BVerfG, Beschluss vom 01-12-1992 - 1 BvR 88/91, 576/91). Mit der Auflösung der Versammlung entfällt der der Grundrechtsschutz aus Art. 8 GG für die für die Versammlungsteilnehmer*innen. Erst nach Auflösung der Versammlung können Maßnahmen, nach dem Polizeirecht, wie Platzverweise ausgesprochen werden (Polizeifestigkeit des Versammlungsrechtes). Die Korrektheit der Auflösung ist daher (fast) immer die zentrale Voraussetzung für Ordnungswidrigkeiten. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung wirft ähnliche Fragen auf, wie die der Beschränkung.

5.2.4.1 Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (Bund: oder Ordnung)

Die Ausführungen zu der unmittelbaren Gefahr bei der Beschränkung gelten entsprechend (5.2.3.1). Zu beachten ist, dass eine Gefahr für die Öffentliche Sicherheit i.d.R. nicht als Grund für eine Auflösung ausreicht: “Ein Versammlungsverbot scheidet aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich aus.” (Düring-Friedl/ Enders Versammlungsrecht 2022, §15 Rn. 114). Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht nach §14 VersammlG ist (entgegen dem Wortlaut) für sich alleine kein Auflösungsgrund (BVerfG NVwZ 2005, 80). Es muss weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit geben, die allerdings darauf beruhen darf, dass es aufgrund der Nichtanmeldung keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden konnten. Zu Prüfen ist also wieder eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese muss auch noch fortbestehen zu dem Zeitpunkt der Auflösung.

5.2.4.2 Verhältnismäßigkeit der Auflösung

Analog zur Beschränkung muss die Auflösung verhältnismäßig sein (siehe 5.2.3.2). Hierbei ist zu beachten, dass nicht jeder Verstoß gegen eine Aufläge ein verhältnismäßiger Grund für eine Auflösung ist. Es muss eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegen, welche die Auflösung der Versammlung rechtfertigt.

Es muss wieder die Geeignetheit geprüft werden, welches wieder regelmäßig unproblematisch ist. Erforderlich (mildeste Mittel) ist die Auflösung häufig, wenn Beschränkungen nicht nachgekommen wurden. Zu prüfen ist dann noch, ob es angemessen ist. Also ob die Gefahr für die öffentliche Sicherheit so groß ist, dass sie ein so einschneidendes Eingreifen in das Versammlungsrecht rechtfertigt. Daher liegt bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Auflösung häufig der Fokus auf der Angemessenheit (wenn milderen Beschränkungen nicht nachgekommen wurde).

5.2.4.3 – 5.2.4.5 Zuständige Behörde, Begründung, Anhörung und Kooperation

Die Ausführungen zu den Beschränkungen gelten entsprechend.

Die Versammlung muss von der zuständigen Behörde aufgelöst worden sein (siehe 5.2.3.3).

Die Polizei ist natürlich weiterhin der Kooperation verpflichtet und eine Anhörung muss immer noch stattfinden, ein zuwiderhandeln ist weiterhin ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (siehe 5.2.3.4).

Die Auflösung muss auch begründet sein und den Versammlungsteilnehmer*innen bekannt gegeben werden (siehe 5.2.3.5) .

5.2.4.6 Anwesenheit nach Auflösung

Deine Anwesenheit muss auch nach der Auflösung bewiesen sein. Häufig gibt es in der Akte keine Fotos, die das belegen.

5.2.4.7 Zeit gelassen für Bedenkzeit und Banner einrollen etc.

Dir muss nach der Auflösung eine Bedenkzeit eingeräumt werden und Zeit gelassen werden deine Versammlungsmaterialien einzupacken (§29 Rn.4 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders).

 

5.2.5 Vorsatz

Du musst vorsätzlich gehandelt haben (§10 OWiG). Das heißt, du musstest die wesentlichen Umstände kennen und hast es zumindest billigend in Kauf genommen, gegen die Auflage zu verstoßen. Der wesentliche Punkt für uns ist, dass du die Auflösung mitbekommen haben musst. In der Regel musst du die Auflösungsdurchsage gehört haben. Andere Wege, die Auflösung mitzubekommen, sind aber auch möglich. Beispielsweise indem es dir eine Polizist*in sagt. 

Falls du nach der finalen Durchsage nicht mehr rausgelassen wurdest (innerhalb der Bedenkzeit), dann wolltest du nicht gegen die Auflage verstoßen. Dann fehlt es am „Wollens“-Teil des Vorsatzes.