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Angst vor Awareness

Es scheint, als ob mit der Erfahrung einer autoritären Awarenss auch eine allgemeine Angst vor Awareness entsteht, im Sinne von "Meine Meinung wird zensiert". Zensur ist ein äusserst problematischer Begriff, da diese der zensierenden Seite eine Macht zuschreibt, die über restriktive Strukturen verfügt (meistens sind das staatliche Stellen). Zudem wird dieser Begriff der "Zensur" oder der "Beschneidung der Meinungsfreiheit" seit einigen Jahren gerne von rechtspopulistischen Kreisen verwendet und dadurch wird versucht, die reaktionären und menschenunwürdigen Tendenzen in diesen Politiken zu verschleiern. Dasselbe können wir auch in unseren Kreisen beobachten, wenn "Zensur!" oder "political correctness!" gerufen wird und somit eine kritischen Auseinandersetzung verunmöglicht wird (es mag sein, dass insbesondere privilegiertere Personen (z.B. christlich, weiss, cis) den Begriff Zensur verwenden, weil sie es sich im Alltag nicht gewohnt sind, dass sie ihre Bedürfnisse zurückstecken sollen und ihre Äusserungen kritisiert werden können; d.h. sie stellen sich nicht die Frage: "Muss ich immer meine Meinung sagen, oder kann ich nicht einmal innehalten und über das Gesagte nachdenken?"). 


Ähnlich problematisch ist es von "polizei-ähnlichen" Strukturen zu sprechen. Polizei ist eine Form staatlich kontrollierter Gewalt und Kontrolle. Es ist ein struktureller Mechanismus, der der Machterhaltung dient. Menschen, die sich aus freien Stücken und ohne besondere Machtmittel zusammen tun, um sich gegen Machtverhältnisse zu wehren, sind nicht mit Polizei zu vergleichen. Der Vergleich ist nicht nur falsch, sondern auch politisch fragwürdig, da er staatliche Gewalt und Unterdruckung nicht adäquat darstellt und klein macht. 


Wir können aber gerne über einen gewissen sozialen Druck sprechen, also was es bedeutet, sich in gewissen Räumen nicht mehr alles sagen zu trauen. Hier kommt es natürlich darauf an, von welchen Räumen wir sprechen, denn es gibt auch Räume, die gar nichts von political correctness halten und das auch ausleben. Also sprechen wir von öffentlich zugänglichen Räumen. Und hier gibt es vielleicht wirklich Momente, wo ich nicht all meinen Gedanken freien Lauf lassen sollte*, sondern dafür lieber spezifisch für solche Diskussionen erschaffene Momenten nutzen sollte (z.B. in Awareness-Workshops, wo explizit darauf aufmerksam gemacht wird, dass Fehlerfreundlichkeit besteht, und Menschen, die sich dem nicht aussetzen wollen, nicht kommen sollen. 

Angst loswerden und Dinge riskieren 


"Wenn eine Analyse von Privilegien in ein politisches Programm umgewandelt werden, das behauptet, dass die Schwächsten keine Risiken eingehen sollten, wird die einzige politisch korrekte Politik zu einer Politik des Reformismus und Rückzugs, 
einer Politik, die notwendigerweise vor dem Status quo kapituliert und gleichzeitig das Erbe von Black Power-Gruppen wie den Black Panthers und der Black Liberation Army auslöscht. Für Fanon ist es gerade das Element des Risikos, das ein militantes Handeln dringlicher macht - die Befreiung kann nur unter Einsatz des Lebens gewonnen werden. Militanz ist nicht nur taktisch notwendig - ihr zweifaches Ziel besteht darin, Menschen zu verwandeln und ihr Wesen "grundlegend zu verändern", indem sie sie ermutigen, ihre Passivität beseitigen und sie von "dem Kern der Verzweiflung" reinigen, der sich in ihren Körpern herauskristallisiert hat". (Wang, S. 19) 


Es gehört wohl zum menschlichen Eigensinn, dass neue und ungewohnte Dinge mit Skepsis betrachtet werden oder gar Angst machen. Wir müssen unser Komfortzone verlassen und uns auf unbekanntes Gelände wagen. So oder ähnlich ist es auch mit 
den Awareness-Konzepten. Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Aufnahme und Anwendung von Awareness-Konzepten in verschiedene Phasen einteilt, sind wir womöglich im Moment in einer "Vorsichtsphase". Wir tasten uns an sie heran, lernen 
sie kennen. Langsam gewöhnen wir uns an sie, verstehen sie, wenden sie an. Hier können auch Fehler passieren, und die Konzepte können willentlich und unwillentlicht missbraucht werden. Wir müssen also kritikfähig und -willig bleiben! 

Was wir uns wünschen, wie wir als Awareness-Gruppe mit Widersprüchen 
umzugehen gedenken und wie wir kritisierbar bleiben wollen 


Wir wünschen uns langfristiges Denken, Anerkennung von persönlichen Lernprozessen, Geduld und Fehlerfreundlichkeit. Nur weil jemensch nicht weiss, was Pronomen sind, hat mensch deine Grenzen nicht überschritten und auch keinen Highkick verdient. Übernehmt Verantwortung für die eigenen Gefühle! Und an alle, die es vermessen halten, Geduld einzufordern: Gebt Acht auf euch, ihr seid natürlich nicht verpflichtet, die Aufklärungsarbeit zu leisten. Es gab unterdrückte Personen vor uns und es wird sie nach uns geben. Auch wir unterdrücken, haben unterdrückt, werden unterdrücken. 

Wir wollen gemeinsam gewaltvolles Verhalten verlernen und gewaltvolle Strukturen angreifen! Und: An alle autoritären Awareness-Strukturen: Löst euch einfach auf, ihr seid eh nicht aware! 

Für unser Wirken ist es zentral, dass wir als Awareness-Gruppe - und das trifft wohl auf alle Awareness-Strukturen zu - kritisierbar bleiben. Auch wir müssen uns reflektieren und in konkreten Fällen allenfalls nachfragen, um die Instrumentalisierung von Awareness-Konzepten für persönliche Agendas "aufzudecken". Das heisst nicht, dass wir eine Erfahrung absprechen, aber allenfalls 
die Konzepte genauer erklären können. Und darauf aufmerskam machen, dass eine inflationäre (= sehr oft) Verwendung von bestimmten Begriffe sich längerfristig nachteilig auf Betroffene sexualisierter und diskriminierender Gewalt auswirken kann. 

Positionierung und Selbstverständnis 


Awareness Basel setzt sich momentan mehrheitlich aus cis-Personen zusammen, wir profitieren fast alle von weisser christlicher Vorherrschaft und den Privilegien eines schweizer Passes, wir sind mehrheitlich heterosexuell, wir werden fast alle nicht von der Gesellschaft behindert, haben in der Gruppe überdurchschnittlich viel Zeit an Hochschulen verbracht, und überwiegend keine dringlichen finanziellen Probleme. Selbskritisch zu sein ist uns wichtig und das heisst auch, unsere Privilegien und Gruppenzusammensetzung zu reflektieren. 


Es sind viele offene Fragen und innere Widerstände und Konflikte da. auch wir sind davor nicht gefeit. Das alles ist Abbild unserer verinnerlichten Machtverhältnisse. Wir möchten den Text als Diskussionsanstoss verstehen, wir können keine abschliessenden Antworten liefern und diese wird es auch nie geben. 

Wir als Awareness sind keine höhere Instanz! Wir versuchen, unterstützend und kontextabhängig bei Prozessen zu wirken, und nicht bestimmend, befehlerisch, eindimensional und eigenmächtig. 

Ressourcen 


Saba-Nur Cheema. 2020. "Die Kultur des Aufschreis. Diskussionen über 
Migroaggressionen, Triggerwarnungen und Safe Spaces haben politische 
Auseinandersetzungen ersetzt." An.schläge 2/2020, S. 22-23. 


e*space, e*vibes. 2014 und 2017. "Definitionsmacht - eine feministische Kritik" 
- Vortrag und Diskussion in Köln, PDF: 
https://www.evibes.org/wp-content/uploads/sites/24/2017/07/wir-arbeiten-nicht-mit- 
definitionsmacht-zum-Zusammenfu%CC%88hren.pdf 

- Text von 2014: http://evibes.blogsport.de/2014/11/18/wir-arbeiten-nicht-mit- 
definitionsmacht/ 

- Mitschnitt der Veranstaltung am 6. Juni 2015 im Autonomen Zentrum Köln - es 
referierte die Interessiertengruppe ( e*space: http://evibes.org/ueberuns/ )im 
Rahmen einer mehrteiligen Diskussionsreihe. 
https://www.mixcloud.com/evibes/definitionsmacht-eine-feministische-kritik- 
vortrag-und-diskussion-in-k%C3%B6ln/ 


Massimo Perinelli. 2015. Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende der 
antirassistischen Bewegung. Phase Zwei, Weissabgleich, Nr 51. https://phase- 
zwei.org/hefte/artikel/triggerwarnung-566/ 


Jacky Wang. 2012. "Against Innocence. Race, Gender, and the Politics of Safety." 
Zuerst erschienen in LIES: A Journal of Materialist Feminism, Vol 1 (2012). 
Insbesondere Kapitel "Safe Space", S. 16 - 21. Link zum PDF: 
https://archive.org/details/AgainstInnocenceRaceGenderAndThePoliticsOfSafety/ 
mode/2up 


Conflict ist not Abuse, Sarah Schulmann https://archive.org/details/conflict-is-not- 
abuse 


Transformative Gerechtigkeit, awarenetz.org und ignite kollektiv 
https://archive.org/details/tg-diskussionsbeitrag