Handlungsmöglichkeiten & Leitfaden für Gespräche
Auf 4 Ebenen intervenieren
Einer aktuellen systematischen Metaanalyse zufolge ist das 4-Ebenen-Interventionsprogramm, das in Deutschland entwickelt und im Rahmen der European Alliance Against Depression (http://daebl.de/FH99) weiterentwickelt wurde, das weltweit am besten belegte gemeindebasierte Suizidpräventionsprogramm (9, 10). Hierzulande haben bereits 90 Regionen dieses Konzept im Rahmen von Bündnissen gegen Depression implementiert. Ziele sind die Prävention von suizidalen Handlungen sowie eine bessere Versorgung von Menschen mit Depressionen. Dies wird durch die gleichzeitige Intervention auf 4 Ebenen erreicht:
1. Kooperation mit Hausärzten, unter anderem Schulungen
2. Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel Plakatkampagnen, öffentliche Veranstaltungen
3. Schulungen von Multiplikatoren, wie Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Altenpflegekräfte, Polizisten
4. Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, etwa Informationsmaterialien, Fördern der Selbsthilfe
Zudem wird versucht, den Zugang zu tödlichen Suizidmethoden einzuschränken, etwa durch die Identifizierung und Sicherung von Suizid-Hotspots. Die Wirksamkeit dieses Präventionsansatzes ließ sich in mehreren, wenn auch nicht in allen kontrollierten Studien zeigen (11).
Bei Menschen mit depressiven Erkrankungen gehört zu jeder Untersuchung die aktive Exploration der Suizidalität, auch wenn der Patient selbst keine entsprechenden Andeutungen gemacht hat. Die folgenden Verhaltensweisen können Warnsignale sein:
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Große Hoffnungslosigkeit, starke Schuldgefühle, verstärkter sozialer Rückzug
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Angelegenheiten ordnen, Abschied nehmen
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Starker Handlungsdrang, zum Beispiel Aussagen wie „Ich halte das nicht mehr aus!“
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Starke Impulsivität – erhöhte Gefahr bei Drogen- oder Alkoholkonsum –, Gereiztheit oder Aggressivität
Die wahnhafte (psychotische) Depression geht mit besonders hohem Leidensdruck und extrem erhöhter Suizidgefährdung einher. Schuld-, Verarmungs- und hypochondrischer Wahn sind die typischen Themen bei psychotischen Depressionen. Hier ist fast immer eine stationäre Behandlung nötig.
Thema Suizid nicht meiden
Die folgende Handlungsempfehlung wurde für Hausärzt*innen geschrieben. Du findest eine weitere tolle Übersicht hier: https://www.treesofmemory.com/aktiv-gegen-suizidgedanken/ueber-suizidgedanken-sprechen
Das tabuisierte und schwere Thema Suizid aktiv anzusprechen, erfordert nicht selten Überwindung. Dies ist aber bei depressiv Erkrankten und anderen möglicherweise Suizidgefährdeten unerlässlich. Die Sorge, die Betroffenen damit erst auf den Gedanken zu bringen, ist unbegründet. Aber wie soll man das Gespräch auf dieses belastende Thema lenken? Hilfreich ist es hier meist, von den eigenen Beobachtungen und Gefühlen auszugehen und sich einen Einstiegssatz zurechtzulegen. Beispiel: „Sie machen auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck und ich mache mir Sorgen um Sie. Haben Sie denn finstere Gedanken und vielleicht sogar daran gedacht, sich etwas anzutun?“ Danach sollte das Gespräch in 2 Teile geteilt werden:
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Teil 1: Abschätzung der Höhe des Suizidrisikos
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Teil 2: Behandlung und suizidpräventive Maßnahmen
Einziges Ziel des 1. Teils ist es die Höhe der Suizidgefahr einzuschätzen. Erst nach bestmöglicher Abschätzung dieses Risikos soll zu Teil 2 übergegangen werden. Der Impuls, direkt Zuspruch und Hilfsangebote zu unterbreiten, sollte unterdrückt werden. Dies geschieht erst im 2. Teil.
Im 1. Teil sollten Suizidgedanken, -absichten und -pläne offen angesprochen und abgefragt werden. In der Tabelle sind Beispielfragen gelistet. Da die Neigung besteht, zu rasch auf beschwichtigende Antworten des Erkrankten einzugehen, um das für alle Beteiligte unangenehme Thema zu verlassen, ist es hilfreich, derartige Fragen parat zu haben. Es muss so lange nachgefragt werden, bis ein bestmöglicher Gesamteindruck („Bauchgefühl“) bezüglich des Suizidrisikos gewonnen worden ist. Manchmal ist hier nicht nur das, was der Patient sagt, sondern das, was er nicht sagt beziehungsweise wie er etwas sagt, aussagekräftig. Einen Fragebogen oder Test, mit dem die Suizidgefährdung ausreichend gut bestimmt werden kann, gibt es leider nicht.
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Kurzfristige Wiedereinbestellung
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Familie mit Einverständnis der Patienten hinzuziehen und informieren
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Sicherstellen, dass die Betroffenen möglichst nicht allein sind
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Veranlassen, dass fachärztliche Hilfe beansprucht wird, etwa gemeinsam zeitnahen Termin ausmachen
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Bei fachärztlicher Behandlung, Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Psychiater mit Zustimmung der Patienten
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Anti-Suizid-Pakt schließen: Betroffener Person per Handschlag das Versprechen abnehmen, dass kein Suizidversuch bis zum nächsten Termin unternommen wird. Zum Beispiel: „Ich mache mir Sorgen um Sie. Können Sie mir denn versprechen, sich bis zu unserem nächsten Termin nichts anzutun? Geben Sie mir Ihr Wort?“ Hierbei sollte klar sein, dass es um Fürsorge und nicht um eine juristische Absicherung des Arztes geht. Eine zum Beispiel zögerliche Reaktion eines Patienten kann auch wichtige Hinweise auf das vorliegende Suizidrisiko liefern.
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Gemeinsam überlegen, was der Patient tun kann, bei Verschlimmerung der Situation, etwa Notfallplan mit Informationen zu Notaufnahmen und Kliniken erstellen
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Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung beginnen
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Stationäre Einweisung in eine psychiatrische Klinik
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Stationäre Einweisung gegen den Willen des Patienten: Dies ist dann nötig, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und der Patient eine stationäre Behandlung ablehnt. Hierfür kann im Notfall die Polizei verständigt werden, die vor Ort prüft, ob eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, und dann gegebenenfalls den Patienten in eine psychiatrische Klinik bringt. Die Rechtmäßigkeit dieser Unterbringung wird zeitnah richterlich überprüft.
Welche dieser Schritte unternommen werden, ist angesichts der Unsicherheiten bei der Einschätzung des Suizidrisikos eine sehr schwierige, verantwortungsvolle ärztliche Entscheidung, die einem niemand abnehmen kann.
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