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Leitfaden für Gespräche

Viele Menschen scheuen sich, das Thema Suizid etwa bei depressiven Personen anzusprechen. Doch in der Praxis lässt sich nur so das Suizidrisiko einschätzen und daraus folgend entsprechende Maßnahmen einleiten.

Foto: Julien Eichinger/stock.adobe.com
Foto: Julien Eichinger/stock.adobe.com

In Deutschland verstarben 2022 10 119 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Menschen als im Verkehr (3 141), durch Drogen (1 990) und durch AIDS (264) zu Tode kamen (1). Suizidversuche werden im Gegensatz zu Suiziden nicht in öffentlichen Statistiken erfasst. Ihre Zahl ist schätzungsweise 15–20-mal so hoch wie die der Suizide (2). Die Grafik zeigt die Alters- und Geschlechtsverteilung der Suizidraten in Deutschland für 2022. Sie verdeutlicht die Zunahme des Suizidrisikos mit höherem Alter und das generell höhere Risiko für Männer. Für sie ist die Gefahr, durch einen Suizid zu versterben, rund 3-mal so hoch wie für Frauen; länderübergreifende Studien berichten sogar ein bis zu 4-fach erhöhtes Suizidrisiko (3). Das gilt insbesondere für Männer über 70 Jahre.

Suizidversuche werden hingegen am häufigsten von jungen Frauen verübt. Die geringere Letalität suizidaler Handlungen bei Frauen liegt vor allem an ihrer Präferenz weniger letaler Methoden (4). Sie wählen deutlich häufiger als Männer Vergiftungen als Suizidmethode, die in Europa in mehr als 95 % der Fälle überlebt werden. In Ländern wie China, in denen Pestizide als hochletale Vergiftungsmöglichkeit in vielen Haushalten verfügbar sind, liegen die Suizidraten der Frauen dagegen höher als die der Männer. Die höheren Suizidraten der Männer in Europa resultieren auch daraus, dass sie bei Anwendung der gleichen Methode häufiger sterben.

Suizidraten in Deutschland 2022 (je 100 000 Einwohner) nach Geschlecht und Alter

Grafik

Suizidraten in Deutschland 2022 (je 100 000 Einwohner) nach Geschlecht und Alter

Insgesamt ist die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Während sich 1980 beispielsweise noch rund 50 Personen pro Tag das Leben nahmen, waren dies 2022 nur noch rund 28 Personen pro Tag. Parallel zum Rückgang der Suizide wuchs die Zahl der Diagnosen psychischer Erkrankungen: So stieg etwa die Zahl der Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen von 8,6 % (1983) auf 41,7 % (2019). Bevölkerungsbasierten Studien zufolge spiegelt dies keine echte Prävalenzzunahme von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen wider, sondern resultiert daraus, dass sich mehr Betroffene trauen, sich Hilfe zu holen, Ärzte Depressionen besser erkennen und die Diagnose Depression nicht mehr so oft hinter als weniger stigmatisierend empfundenen Diagnosen wie Rückenschmerz oder Migräne versteckt wird (5). Damit verbessert sich die Versorgung der Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen, was den Rückgang der Suizidraten hierzulande erklären dürfte.

Depression häufigste Ursache

Untersuchungen zu Ursachen und Risikofaktoren von Suiziden stützen sich häufig auf psychologische Autopsiestudien, in denen Angehörige und behandelnde Ärzte von Suizidopfern befragt werden. Eine aktuelle Metaanalyse basiert auf 37 solcher Autopsiestudien (6). Der stärkste Zusammenhang wurde zwischen Suiziden und psychiatrischen Erkrankungen (Odds Ratio [OR] 13,1) festgestellt. Besteht eine psychiatrische Erkrankung, ist daher das Risiko, an einem Suizid zu sterben, um mehr als das 10-Fache erhöht. Bei 71 % der Personen lag zum Todeszeitpunkt eine psychiatrische Erkrankung vor. Da Depressionen und auch andere psychische Erkrankungen häufig nicht diagnostiziert werden, dürfte der Anteil der Suizidopfer mit einer psychischen Erkrankung noch höher liegen. Laut einer detaillierten Reanalyse psychologischer Autopsiestudien erfolgten über 90 % der Suizide im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen (7). Depressionen sind mit Abstand die häufigste Ursache für Suizide. Hoffnungslosigkeit ist als Symptom der Depression am stärksten mit vollendeten Suiziden assoziiert (8). Ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko besteht weiterhin bei Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeits- sowie Essstörungen und Substanzabhängigkeiten (4, 6).

Ein weiterer Risikofaktor für vollendete Suizide sind vorangegangene Suizidversuche (OR 8,5), die in der zitierten Metaanalyse bei 29 % der an Suizid Verstorbenen vorlagen (6). Deutlich geringer war der Zusammenhang mit kritischen äußeren Ereignissen wie Partnerschaftskonflikten (OR 5,0), juristischen Problemen (OR 4,8), familiären Konflikten (OR 4,5) und vollendeten Suiziden von Angehörigen (OR 3,7). In der Depression werden bestehende Probleme, die außerhalb der Depression als bewältigbar aufgefasst werden, als unlösbar und katastrophisierend erlebt und deshalb auch häufiger thematisiert. Daher weisen diese Zahlen nicht ohne Weiteres auf einen kausalen Zusammenhang hin.

Auf 4 Ebenen intervenieren

Einer aktuellen systematischen Metaanalyse zufolge ist das 4-Ebenen-Interventionsprogramm, das in Deutschland entwickelt und im Rahmen der European Alliance Against Depression (http://daebl.de/FH99) weiterentwickelt wurde, das weltweit am besten belegte gemeindebasierte Suizidpräventionsprogramm (9, 10). Hierzulande haben bereits 90 Regionen dieses Konzept im Rahmen von Bündnissen gegen Depression implementiert. Ziele sind die Prävention von suizidalen Handlungen sowie eine bessere Versorgung von Menschen mit Depressionen. Dies wird durch die gleichzeitige Intervention auf 4 Ebenen erreicht:

1. Kooperation mit Hausärzten, unter anderem Schulungen

2. Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel Plakatkampagnen, öffentliche Veranstaltungen

3. Schulungen von Multiplikatoren, wie Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Altenpflegekräfte, Polizisten

4. Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, etwa Informationsmaterialien, Fördern der Selbsthilfe

Zudem wird versucht, den Zugang zu tödlichen Suizidmethoden einzuschränken, etwa durch die Identifizierung und Sicherung von Suizid-Hotspots. Die Wirksamkeit dieses Präventionsansatzes ließ sich in mehreren, wenn auch nicht in allen kontrollierten Studien zeigen (11).

Bei Menschen mit depressiven Erkrankungen gehört zu jeder Untersuchung die aktive Exploration der Suizidalität, auch wenn der Patient selbst keine entsprechenden Andeutungen gemacht hat. Die folgenden Verhaltensweisen können Warnsignale sein:

  • Große Hoffnungslosigkeit, starke Schuldgefühle, verstärkter sozialer Rückzug

  • Angelegenheiten ordnen, Abschied nehmen

  • Starker Handlungsdrang, zum Beispiel Aussagen wie „Ich halte das nicht mehr aus!“

  • Starke Impulsivität – erhöhte Gefahr bei Drogen- oder Alkoholkonsum –, Gereiztheit oder Aggressivität

Die wahnhafte (psychotische) Depression geht mit besonders hohem Leidensdruck und extrem erhöhter Suizidgefährdung einher. Schuld-, Verarmungs- und hypochondrischer Wahn sind die typischen Themen bei psychotischen Depressionen. Hier ist fast immer eine stationäre Behandlung nötig.

Thema Suizid nicht meiden

Das tabuisierte und schwere Thema Suizid aktiv anzusprechen, erfordert nicht selten Überwindung. Dies ist aber bei depressiv Erkrankten und anderen möglicherweise Suizidgefährdeten unerlässlich. Die Sorge, die Betroffenen damit erst auf den Gedanken zu bringen, ist unbegründet. Aber wie soll man das Gespräch auf dieses belastende Thema lenken? Hilfreich ist es hier meist, von den eigenen Beobachtungen und Gefühlen auszugehen und sich einen Einstiegssatz zurechtzulegen. Beispiel: „Sie machen auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck und ich mache mir Sorgen um Sie. Haben Sie denn finstere Gedanken und vielleicht sogar daran gedacht, sich etwas anzutun?“ Danach sollte das Gespräch in 2 Teile geteilt werden:

  • Teil 1: Abschätzung der Höhe des Suizidrisikos

  • Teil 2: Behandlung und suizidpräventive Maßnahmen

Einziges Ziel des 1. Teils ist es die Höhe der Suizidgefahr einzuschätzen. Erst nach bestmöglicher Abschätzung dieses Risikos soll zu Teil 2 übergegangen werden. Der Impuls, direkt Zuspruch und Hilfsangebote zu unterbreiten, sollte unterdrückt werden. Dies geschieht erst im 2. Teil.



Im 1. Teil sollten Suizidgedanken, -absichten und -pläne offen angesprochen und abgefragt werden. In der Tabelle sind Beispielfragen gelistet. Da die Neigung besteht, zu rasch auf beschwichtigende Antworten des Erkrankten einzugehen, um das für alle Beteiligte unangenehme Thema zu verlassen, ist es hilfreich, derartige Fragen parat zu haben. Es muss so lange nachgefragt werden, bis ein bestmöglicher Gesamteindruck („Bauchgefühl“) bezüglich des Suizidrisikos gewonnen worden ist. Manchmal ist hier nicht nur das, was der Patient sagt, sondern das, was er nicht sagt beziehungsweise wie er etwas sagt, aussagekräftig. Einen Fragebogen oder Test, mit dem die Suizidgefährdung ausreichend gut bestimmt werden kann, gibt es leider nicht.

Gesprächsleitfaden zur Abschätzung der Suizidgefährdung

Tabelle

Gesprächsleitfaden zur Abschätzung der Suizidgefährdung

Die Risikoabschätzung kann von passiven Suizidgedanken ohne Suizidabsicht bis zu hoher akuter Suizidgefährdung reichen. Je nach Einschätzung sollten im 2. Teil verschiedene Maßnahmen folgen. Hierbei kann aus einem ganzen Spektrum an Möglichkeiten ausgewählt werden, zum Beispiel:

  • Kurzfristige Wiedereinbestellung

  • Familie mit Einverständnis der Patienten hinzuziehen und informieren

  • Sicherstellen, dass die Betroffenen möglichst nicht allein sind

  • Veranlassen, dass fachärztliche Hilfe beansprucht wird, etwa gemeinsam zeitnahen Termin ausmachen

  • Bei fachärztlicher Behandlung, Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Psychiater mit Zustimmung der Patienten

  • Anti-Suizid-Pakt schließen: Betroffener Person per Handschlag das Versprechen abnehmen, dass kein Suizidversuch bis zum nächsten Termin unternommen wird. Zum Beispiel: „Ich mache mir Sorgen um Sie. Können Sie mir denn versprechen, sich bis zu unserem nächsten Termin nichts anzutun? Geben Sie mir Ihr Wort?“ Hierbei sollte klar sein, dass es um Fürsorge und nicht um eine juristische Absicherung des Arztes geht. Eine zum Beispiel zögerliche Reaktion eines Patienten kann auch wichtige Hinweise auf das vorliegende Suizidrisiko liefern.

  • Gemeinsam überlegen, was der Patient tun kann, bei Verschlimmerung der Situation, etwa Notfallplan mit Informationen zu Notaufnahmen und Kliniken erstellen

  • Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung beginnen

  • Stationäre Einweisung in eine psychiatrische Klinik

  • Stationäre Einweisung gegen den Willen des Patienten: Dies ist dann nötig, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und der Patient eine stationäre Behandlung ablehnt. Hierfür kann im Notfall die Polizei verständigt werden, die vor Ort prüft, ob eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, und dann gegebenenfalls den Patienten in eine psychiatrische Klinik bringt. Die Rechtmäßigkeit dieser Unterbringung wird zeitnah richterlich überprüft.

Welche dieser Schritte unternommen werden, ist angesichts der Unsicherheiten bei der Einschätzung des Suizidrisikos eine sehr schwierige, verantwortungsvolle ärztliche Entscheidung, die einem niemand abnehmen kann.