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Dynamiken und Wege in die Krise

Lange Zeit war nicht klar abgesteckt, was zur Verantwortung des Awareness-Teams gehörte, was dazu führte, dass der Kreis der an das Awareness-Team delegierten Aufgaben immer größer wurde: Von Fallarbeit über Party-Awareness, rund um die Uhr Erreichbarkeit für emotional first-Aid, über emotionale Arbeit im weiteren Sinne, Präventionsarbeit, Bildungsarbeit, Hilfe bei der Klärung von Konflikten bis hin zu genereller Ansprechbarkeit bei offenen Fragen dehnte sich der Aufgabenbereich des Awareness-Teams aus, ohne dass die Anzahl der verantwortlichen Menschen zunahm. 

Der Anspruch an Awareness-Arbeit war hoch, die kollektive Verantwortung teils eher gering. Zwar geschah viel emotionale Arbeit auch innerhalb von Bezugsgruppen, doch insbesondere Flinta* Personen im Awareness-Team wurden sehr häufig von Personen aus Lü aufgesucht, die über ihre Gefühle sprechen wollten. Auch begann Fallarbeit teils so, dass ein Mensch auf eine Awareness-Person zukam, etwas schilderte und darum bat, dass da „etwas gemacht“ würde, der Mensch wollte das aber nur delegieren und sich selbst nicht weiter damit beschäftigen. 

In der Folge verbrachten Awareness-Menschen viel Zeit damit, die betreffenden Menschen zu suchen, um Fallarbeit überhaupt aufnehmen zu können. Nicht immer waren die Menschen auffindbar, nicht immer waren die Menschen bereit zu sprechen, nicht immer gab es einen ruhigen Rahmen, um zu sprechen, und nicht immer blieben die Menschen lange oder durchgängig in Lü, weshalb das Awareness-Team immer wieder darüber diskutierte, wann überhaupt Fallarbeit aufgenommen werden sollte und wann eine Gewalt ausübende Person schlicht gebeten werden sollte zu gehen, wenn die Person sowieso nur noch wenige weitere Tage geblieben wäre. 

Der Gedanke war, dass zwei oder mehr Menschen aus dem Awareness-Team gemeinsam einen Fall übernehmen, in der Praxis übernahmen aufgrund der geringen Größe des Awareness-Teams häufig einzelne Personen einen Fall. Das führte mit dazu, dass es kein oder kaum Team-Gefühl im Awareness-Team gab. Auch konnte es so schneller zu Überforderung kommen – auch, weil nicht immer von vornherein absehbar war, als wie groß oder tiefgehend sich das Problem herausstellen würde. Darüber hinaus waren teilweise nur wenige oder nur ein Mensch mit Erfahrung im Awareness-Team, während alle anderen neu waren. In aller Regel gab es weder Supervision noch systematische Koordination der Fallarbeit, was es schwer machte, Überblick zu behalten oder zu gewinnen oder im Fall von Überforderung Unterstützung zu bekommen. 

Auch war sich das Awareness-Team intern nicht immer einig. Gerade wenn neue Menschen kurzzeitig ins Awareness-Team kamen, die ihr Verhalten, beispielsweise als cis-männliche Person, noch wenig selbst reflektiert hatten, entwickelten sich dabei mitunter auch patriarchale Dynamiken innerhalb des Awareness-Teams. 

Die dauernde Erreichbarkeit stellte eine enorme Anstrengung dar, da sich nicht ausreichend Menschen die Schichten aufteilen konnten und sich zudem manchmal Menschen bei der Nacht-Awareness im Funkkanal verwählten. Doch auch jenseits der Schichten war es für die Menschen im Awareness-Team mitunter schwierig, die Awareness-Brille überhaupt abzulegen. Durch die vielen ihnen anvertrauten Geschichten wussten sie vieles, was in Lü schief lief und sahen auch vieles, was anderen vielleicht nicht unbedingt auffiel. Auch wurden sie öfter beim Pause machen oder beim Essen zu einer schwierigen Situation hinzugerufen, sodass manche Lü tatsächlich verlassen mussten, um wirklich Pause machen zu können. Besonders schwierig war es auch, wenn größere Awareness-Fälle in der unmittelbaren Wohnumgebung von Awareness-Menschen in Lü geschahen.

Auch wurden sie von anderen Bewohner*innen zunehmend mit ihrer Rolle als Teil des Awareness-Teams identifiziert und teils gar direkt als „Awareness-XY“ angesprochen. Der unklare und zunehmend größere Aufgabenrahmen entwickelte sich bis dahin, dass Menschen das Awareness-Team fragten, ob sie an diesem oder jenem Ort zelten „dürfen“ oder ob die Musik so „zu laut“ sei - als wäre das Awareness-Team eine Art externe Instanz und Autorität. Durch diese Prozesse der Externalisierung und Delegation von Verantwortung entstand eine gewisse, von beiden Seiten als unangenehm empfundene Distanz zwischen Awareness-Menschen und allen anderen. Das ging bis zu einer Projektion von Autorität und Gefahr auf das Awareness-Team, das die (notwendigerweise oft) unangenehmen Gespräche anstieß. Bis dahin, dass Begriffe wie „Awareness-Polizei“ fielen, parallel zu Aussagen von „Awareness regelt das (für uns)“.

Menschen im Awareness-Team brannten aus und fielen aus, sodass die verbliebenen Menschen noch mehr Arbeit zu bewältigen hatten und noch schneller ausbrannten. Wer eigentlich keine Kapazitäten mehr hatte, konnte dem eigenen Ruhebedürfnis nicht unbedingt nachgehen, denn viele Dinge konnten nicht warten: Bei sexualisierter Gewalt in einer offenen Besetzung lässt sich die Awareness-Arbeit nicht auf den nächsten Tag vertagen. Auch stellten Menschen immer wieder die gemeinsamen Ideale (z.B. bezüglich Transformative Justice) über die eigenen Kapazitätsgrenzen. Zu Überforderung kam es unabhängig von der Gesamtverantwortungslast auch im Zuge von einzelnen besonders schweren Fällen, auf die hin manche Menschen ebenfalls das Awareness-Team verließen.