Ordnungswidrigkeiten-Leitfaden
- 1. Einleitung
- 2. Strategische Überlegungen
- 3. Einstellung (vor der Verhandlung)
- 4. Risiken
- 5. Checkliste
- 5.1 Vor dem Prozess
- 5.2 Im Prozess
- 5.3 Nach dem Prozess (Rechtsmittel)
- 6. Rechtfertigender Notstand §16 OWiG
- 7. Mögliche Vorwürfe
- 8. Plädoyer - Beispiel
- 9. Zuständige Behörde in den Ländern
1. Einleitung
Du hast gegen das „Fossile Weiterso“ Widerstand geleistet und erfährst jetzt dafür Repressionen oder bereitest dich in der Zukunft darauf vor. Nimm dir gerne einen Moment, um dich noch einmal damit zu verbinden, warum du diesen Protest geleistet hast oder für wichtig erachtest.
Bei Ordnungswidrigkeiten sind die Möglichkeiten, des Gerichts das Verfahren einzustellen deutlich größer (47 OWiG) und die Akten sehr viel dünner. Auch werden die Voraussetzungen des Versammlungsrechts intensiver geprüft (kein strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff), so dass unsere Aussicht ohne Repressionen aus einer von uns gut vorbereiteten Verhandlung sehr gut stehen (erfahrungsgemäß weit über 50%). Häufig sind für die Gerichtsprozesse nur 20-30 Minuten geplant und keine Zeug*innen geladen. Die Richter*in möchte das Verfahren auch in der Regel in dieser Zeit abarbeiten, da die Richter*in sonst Überstunden machen muss. Daher sind viele Richter*innen bereit, die Verfahren einzustellen, sobald wir Fragen aufwerfen.
Versammlungsrecht ist Ländersache, daher gilt in vielen Bundesländern (z.B.: Berlin) nicht das bundesweite Versammlungsrecht. Da vom Bundesverfassungsgericht extrem viel bereits aus dem Grundgesetz gefolgert wird, sind die Unterschiede gering. Es ist lediglich verschieden, wo es steht, dass etwas gilt, so haben beispielsweise einige Bundesländer die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bereits ins Versammlungsrecht geschrieben und andere nicht.
2. Strategische Überlegungen
Dir können bei deinem Prozess verschiedene Ziele am wichtigsten sein. Es kann dir am wichtigsten sein, ohne finanzielle Repressionen aus der Sache herauszukommen. Finanzielle Repressionen beeinträchtigen unser Leben und halten uns von zukünftigem Protest ab. Es steht dir auf jeden Fall frei, es als dein Ziel festzulegen. Dann bietet es sich an, den Fokus in der Verhandlung auf die Einhaltung des jeweiligen Versammlungsrechts (Ländersache) zu legen. Wie das geht, erfährst du in Kapitel 5.
Gerichte sind auch ein Ort, an dem Protest stattfinden kann. Wenn es dir ein wichtiges Ziel ist, die Effektivität unseres Protestes darzulegen, funktioniert dies am besten über den Rechtfertigenden Notstand. Mehr dazu gibt es in Kapitel 6.
In der Strategie der Letzten Generation und anderen Bewegungen ist ein wesentlicher Mechanismus die Überlastung der Gerichte. Wenn dir dies ein wichtiges Ziel ist, kannst du die Verhandlung mit langen Ausführungen (beispielsweise zur Klimakatastrophe) in die Länge ziehen. Auch wäre dies ein Grund, keine Einstellung im Vorhinein zu beantragen.
Die Überlegung, worauf du den Fokus setzt, spielt auch eine Rolle dabei, was du von dem Tag erzählst. Aus Respressionsvermeidungssicht ist es regelmäßig das Klügste gar keine Angaben zu dem Sachverhalt zu machen (nur am Anfang deine Personalien zu bestätigen) und dann aufzuzeigen, was alles in der Akte nicht bewiesen ist (mehr dazu unter 5.). Wenn es dein wichtigstes Ziel ist darzulegen, dass unser Protest gerechtfertigt und notwendig ist, ist es häufig besser darlegbar, wenn du erzählst warum du da warst und begründest warum du was getan hast und so auf die verschiedenen Mechanismen eingehst, über die der Aktivismus funktioniert.
3. Einstellung (vor der Verhandlung)
Im Ordnungswidrigkeitsverfahren hat das Gericht deutlich mehr Möglichkeiten, das Verfahren einzustellen als im Strafverfahren. Am häufigsten wird nach §47 OwiG eingestellt. Hiernach kann eingestellt werden, wenn das Gericht (oder Staatsanwaltschaft) eine Strafe nach dem eigenen Ermessen für nicht gegeben hält. Der häufigste Grund, warum die Gerichte eine Strafe für nicht notwendig halten, ist, dass es zu viel Arbeit wäre, den Sachverhalt vollkommen aufzuklären. Vor der Verhandlung braucht die Einstellung regelmäßig die Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Allerdings kommt fast nie eine Vertreter*in zur Verhandlung. Sodass in der Verhandlung die Einstellung sehr viel leichter ist, da sie nicht zustimmen braucht, wenn sie nicht da ist.
Die anderen (selteneren) Einstellungsgründe sind §153 StGB und §154 StGB jeweils in Verbindung mit §46 OWiG. Hiernach ist eine Verfolgung nicht gegeben, da du aus Sicht des Gerichts eine geringe Schuld hast (§153) oder du andere „schlimmere Vergehen“ begangen hast. Du kennst sie vielleicht schon aus Strafverfahren. Sie können nach §46 OWiG angewendet werden.
Du kannst die Einstellung schon vor dem Prozess anregen. Hierbei bietet sich besonders eine Einstellung nach §154 StGB, 46 OWiG an, wenn du bereits andere Verfahren am Laufen hast (insbesondere Strafverfahren). Vorlage dazu gibt es im Wiki: Einstellung nach §154 StPO. Inwiefern eine Begründung der Einstellung mit den Angriffspunkten des Versammlungsrechts (5. Kapitel) sinnvoll ist, können wir mangels Erfahrung noch nicht sagen. In der Regel begründen Menschen ihre Anregungen nur sehr knapp und schaffen es auch nur selten, eine Einstellung im Vorhinein zu erreichen. Ob dies bei einer gut begründeten Einstellung anders ist, kann von uns bisher nicht gesagt werden.
4. Risiken
Zum einen gilt in der Gerichtsverhandlung das Verschlechterungsverbot nicht. Das heißt, in der Verhandlung kann theoretisch auch eine höhere Geldbuße herauskommen. Es ist bereits dazu gekommen, dass sich die Geldbuße erhöht hat, es ist allerdings die krasse Ausnahme.
Zum anderen gibt es ein Kostenrisiko. Das Einspruchsverfahren kostet nichts, wenn dem Einspruch aber nicht stattgegeben wird (was die Regel ist), kommt es zur Gerichtsverhandlung. Wenn die Verhandlung dann durch Urteil (außer Freispruch) entschieden wird, kostet es zusätzlich 10% der Geldbuße, mindestens und idR 55€ (Nr 4410 der Anlage 1 zum GKG). Dazu kommen noch notwendige Auslagen der Zeugen. Wenn das Verfahren eingestellt wird kommen auch Kosten auf dich zu. Wenn der Einspruch nach Eingang der Akten bei Gericht und vor Beginn der Hauptverhandlung zurückgenommen wird, kostet es idR 17€ (Nr. 4111). Wenn der Einspruch noch während des Einspruchsverfahrens zurückgenommen wird, bevor die Akten bei Gericht landen, kostet es nichts.
Es ist allerdings unsere Erfahrung, dass es sich in der Regel sehr lohnt, die Verfahren zu führen, da die Chancen, ganz ohne Kosten (Freispruch oder Einstellung) rauszugehen, sehr hoch sind und in den übrigen Fällen sich die Höhe häufig zumindest reduziert.
5. Checkliste
Vor dem Prozess (5.1):
- Einspruch eingelegt
- Akteneinsicht beantragt
- RAZ geschrieben (legal@raz-ev.org)
- Überlegung worauf Fokus
- Einstellung im Vorhinein beantragt
Im Prozess (5.2):
- Verjährt? (6 Monate)
- Anwesenheit bewiesen
- Beschränkung
- Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (oder Ordnung)
- Verhältnismäßigkeit (geeignet, erforderlich (mildeste Mittel), angemessen)
- Zuständige Behörde
- Erfolgte Anhörung und Kooperation
- Form
- Auflösung
- Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (Bund oder Ordnung)
- Verhältnismäßigkeit der Auflösung
geeignet, erforderlich (mildeste Mittel), angemessen - Zuständige Behörde
- Anhörung und Kooperation
- Begründet
- Anwesenheit nach Auflösungen
- Zeit gelassen für Bedenkzeit und Banner einrollen etc.
- Vorsatz (Kenntnis über Auflösung)
Nach dem Prozess (5.3):
1. RAZ informieren und gegebenenfalls Urteil übersenden
2. Rechtsmittel?
5.1 Vor dem Prozess
Du musst Einspruch gegen das Bußgeld einlegen, wenn du möchtest, dass über die Ordnungswidrigkeit verhandelt wird. Eine Vorlage findest du hier (im Link unten): https://wiki.aktivismus.org/books/vorlagen-d4I/page/einspruch-bei-strafbefehlen-bussgeldbescheiden. Sonst wird das Bußgeld rechtskräftig. Ab der Zustellung bei dir hast du 2 Wochen Zeit, bis der Einspruch bei dem Gericht angekommen sein muss. Häufig lohnt es sich, den Einspruch per Fax zu schicken. Das geht beispielsweise über PDF24 FAX versenden. Schreibe gerne in den Einspruch den Antrag auf Akteneinsicht mit rein (wie in Vorlage). Wichtig ist, dass der Einspruch unterschrieben ist.
Spätestens wenn du eine Ladung erhältst, solltest du dem RAZ eine Email schreiben (legal@raz-ev.org). Wir bereiten das Verfahren dann mit dir vor.
Du solltest dir Gedanken darüber machen, was dir bei deinem Prozess wichtig ist. Mehr dazu in Kapitel 2 Strategische Überlegungen.
Wie in Kapitel 3 dargelegt, kannst du eine Einstellung im Vorhinein beantragen.
5.2 Im Prozess
5.2.1 Verjährung
In einzelnen Fällen ist schon die Verjährung eingetreten. Das kommt für uns einer Einstellung gleich. Für die meisten Ordnungswidrigkeiten, die für uns Infragekommen, ist die Verjährungsfrist 6 Monate, da die maximale Höhe 1000€ ist (§31 OWiG). Welche Ordnungswidrigkeit dir vorgeworfen wird findest du in deinem Bußgeldbescheid und dann wenn du diese Ordnungswidrigkeit (z.B.: § 29 I Nr. 2 VersG) nach guckst (einfach in Suchmaschine eingeben) findest du im Gesetz (häufig ganz unten) die maximale Strafe.
ABER diese Frist beginnt immer wieder neu (§33 OWiG). Von einigen Prozessen, die die Verjährung neu beginnen lassen, kannst du gar nichts mitbekommen (z.B.: Übergabe der Akten ans Gericht). Als Faustregel, wenn mehr als 6 Monate zwischen zwei Briefen oder dem Protest und dem ersten Brief vergangen sind, könnte es verjährt sein. Dann müssen wir die Akte genauer anschauen. In manchen Fällen fehlen die Briefe in der Akte, dann kann das Gericht nicht nachweisen, dass es nicht verjährt ist und das Gericht stellt das Verfahren ein.
Unsere Empfehlung ist, immer Verjährung anzusprechen, wenn deutlich über 6 Monate seit dem Protest vergangen sind.
5.2.2 Anwesenheit
Häufig gibt es keine Bilder in der Akte. Dann kann deine Anwesenheit nicht bewiesen werden. Dass deine Personalien aufgenommen worden sind, reicht den Richter*innen i.d.R. nicht aus(zumindest, wenn die Polizei nicht als Zeug*innen da sind, um den Prozess darzulegen). Hier musst du dir überlegen, was dir wichtig ist. Aus Repressionsvermeidung ist es häufig klug, gar keine Angaben zu dem Tag zu machen. Wenn die Akte so schlecht ist, dass deine grundsätzliche Anwesenheit nicht bewiesen werden kann, findet man i.d.R. Auch genügend andere Angriffspunkte.
5.2.3 Beschränkung
Die Prüfung der Beschränkung und Auflösung stellen die Kernpunkte der Verhandlung dar. Für eine Auflösung darf eine Beschränkung nicht ausreichen. Im Bundesversammlungsgesetz folgt es daraus, dass es einen geringen Grundrechtseingriff darstellt und aus dem Übermaßverbot, in Berlin ist es in §14III VersFG BE geregelt. Daher muss in der Regel eine Beschränkung einer Auflösung vorausgehen.
5.2.3.1 Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (oder Ordnung)
Für eine Beschränkung muss eine unmittelbare Gefahr für die Öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen (§15 I VersammlG; §14I VersFG Berlin).
Die Öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, [… ], sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung […] (BVerfG NJW 1985, 2395). Für uns relevant ist, dass blockierte Autofahrer*innen als Gefahr für die öffentliche Sicherheit zählen, da sie in ihrer Freiheit eingeschränkt sind. Wenn eine Straftat droht (z.B.: Nötigung §240 StGB) ist dies eine Gefahr für die Unversehrtheit der Rechtsordnung und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.
Die öffentliche Ordnung ist für uns relativ unwichtig, da aufgrund einer Gefahr für die öffentliche Ordnung eine Versammlung fast nie aufgelöst werden kann. In Berlin ist öffentliche Ordnung gar nicht mehr als Grund aufgeführt. Öffentliche Ordnung meint die Summe aller ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden, mit den Werten des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes betrachtet wird (BVerfG NvVZ 2008, 671).
Unmittelbar ist die Gefahr in diesem Zusammenhang, wenn eine konkrete Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (BVerfG NVwZ 2008, 671). Eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden eintritt reicht aus (BVerfG NvvZ 1998, 834).
Für uns relevant ist vor allem, dass in der Akte (oder durch Zeug*innen) dargelegt werden muss, dass es eine (erhebliche) Beeinträchtigung des Fließverkehrs gab oder dieser absehbar war. Ein allgemeiner Vermerk in der Akte, dass es dies gab, reicht i.d.R. zum Beweis nicht aus.
5.2.3.2 Verhältnismäßigkeit der Beschränkung
Die Beschränkung muss aber auch verhältnismäßig sein. Das folgt daraus, dass die Behörde ein Ermessen hat („kann“ in §15 VersammlG bzw. §14 VersammlFG BE) und dies entsprechend dem Gesetz ausüben muss (§40 VwVfG). Eine Anordnung ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen ist.
In der Regel werden Menschen auf den Gehweg verwiesen, damit sie den Fließverkehr nicht mehr beeinträchtigen. Diese Beschränkung ist in der Regel geeignet, die Gefahr (Verkehr kann nicht fließen) zu beheben.
Deutlich wichtiger ist die Erforderlichkeit. Hier muss geprüft werden, ob eine Beschränkung mit einem geringeren Eingriff ausgereicht hätte, um die Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Es muss also geprüft werden, ob die Beschränkung das mildeste Mittel war. Beispielsweise wäre die Beschränkung, dass die Versammlung nur auf einer Fahrspur stattfinden darf (wenn es mehrere gibt) ein milderes Mittel gegenüber einer Verlegung auf den Fußgängerweg. Häufig kann nicht nachgewiesen werden, dass es bei solchen milderen Beschränkungen immer noch zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Fließverkehrs kommen würde.
Die Beschränkung müsste angemessen sein. Daher darf der Grundrechtseingriff (deine Versammlungsfreiheit) nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen (Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer*innen). Außer Verhältnis würde es stehen, wenn die Autofahrer*innen nur einen kurzen Umweg fahren müssten.
5.2.3.3 Zuständige Behörde
Die Entscheidung muss von der zuständigen Behörde entschieden worden sein. Dies ist nach Beginn der Versammlung i.d.R. eine Polizeibehörde. Welche es genau ist, ist von Land zu Land verschieden (Kapitel 8). Wichtig ist, dass wir deshalb Informationen brauchen, über den Menschen, welcher die Versammlung aufgelöst hat. In der Akte ist häufig nicht angegeben, wer die Versammlung aufgelöst hat. Zu prüfen ist dann, ob die Polizist*in der zuständigen Polizeibehörde angehört hat. In Berlin ist einfach die Polizei zuständig, da gibt es leider für Berlin relativ wenig zu argumentieren. In anderen Bundesländern ist es eine Orts oder Kreisbehörde und daher muss dann bekannt sein in welcher Orts- oder Kreisbehörde die Polizist*in, die die Versammlung aufgelöst hat, arbeitet.
5.2.3.4 Anhörung und Kooperation
Nach §28 I VwVfG ist eigentlich eine Anhörung des Veranstalters nötig. Allerdings kann sie nach §28 II Nr. 1 VwVfG bei Gefahr im Verzug entfallen. Außerdem kann sie nach §45 I VwVfG geheilt werden. Wir haben noch nie von einer erfolgten nachträglichen Heilung gehört. Es muss also nachgewiesen werden, dass eine Gefahr im Verzug vorlag. Das ist allerdings i.d.R. bei Maßnahmen vor Ort der Fall.
Für die Polizei und Veranstalter gilt das Kooperationsgebot. Wenn die Polizei nicht der Kooperation nachkommt, ist das ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Eine erfolgreiche Kooperation ist immer das mildere Mittel gegenüber Beschränkungen, Verboten und Auflösungen, daher ist die fehlende Bereitschaft der Polizei zur Kooperation ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (Versammlungsrecht Dürig-Friedl/ Enders §14 Rn, 33).
Auch das Nichtvorhandensein eines Leiters oder Veranstalters schließt nicht den Kooperations- und Deeskalationsgrundsatz aus (VersFG BE Kommentar Knape §4 Rn 39). In der Akte sind fast nie Ausführungen zu Kooperationsversuchen der Polizei. Daher kann dies häufig als Indiz der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme genutzt werden.
Wenn der Veranstalter dem Kooperationsgebot nicht nachkommt, muss er Maßnahmen gegen die Versammlung hinnehmen, wenn diese darauf beruhen, dass die Polizei nur unzureichende Prognosen anfertigen kann oder keine Vorbereitungen treffen kann. Für uns ist wichtig, dass falls die Versammlung (bzw. deren Leiter) als unkooperativ angesehen wird, dies nur Maßnahmen rechtfertigt, wenn die mangelnde Kooperation unzureichende Prognosen oder Vorbereitungen begründet. Dass aus Sicht des Gerichtes mangelhaft kooperiert wurde, reicht nicht als Grund für Maßnahmen gegen die Versammlung aus.
5.2.3.5 Form
Beschränkungen müssen begründet werden und gegenüber dem Teilnehmer*innen bekanntgegeben werden. In Berlin folgt es aus dem Gesetz (§14 V VersFG BE), im Bund leider nicht. Hierbei kann man auf Kommentare, (Düring-Friedl/ Enders Versammlungsrecht 2022, §15 Randnummer 114) verweisen. Die Begründung darf kurz sein. Um das zu prüfen, benötigen wir den Wortlaut der Beschränkung, welcher sich häufig nicht in der Akte findet.
5.2.4 Auflösung
Das Gericht ist verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Auflösung zu prüfen (BVerfG, Beschluss vom 01-12-1992 - 1 BvR 88/91, 576/91). Mit der Auflösung der Versammlung entfällt der der Grundrechtsschutz aus Art. 8 GG für die für die Versammlungsteilnehmer*innen. Erst nach Auflösung der Versammlung können Maßnahmen, nach dem Polizeirecht, wie Platzverweise ausgesprochen werden (Polizeifestigkeit des Versammlungsrechtes). Die Korrektheit der Auflösung ist daher (fast) immer die zentrale Voraussetzung für Ordnungswidrigkeiten. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung wirft ähnliche Fragen auf, wie die der Beschränkung.
5.2.4.1 Unmittelbare Gefahr für öffentliche Sicherheit (Bund: oder Ordnung)
Die Ausführungen zu der unmittelbaren Gefahr bei der Beschränkung gelten entsprechend (5.2.3.1). Zu beachten ist, dass eine Gefahr für die Öffentliche Sicherheit i.d.R. nicht als Grund für eine Auflösung ausreicht: “Ein Versammlungsverbot scheidet aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich aus.” (Düring-Friedl/ Enders Versammlungsrecht 2022, §15 Rn. 114). Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht nach §14 VersammlG ist (entgegen dem Wortlaut) für sich alleine kein Auflösungsgrund (BVerfG NVwZ 2005, 80). Es muss weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit geben, die allerdings darauf beruhen darf, dass es aufgrund der Nichtanmeldung keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden konnten. Zu Prüfen ist also wieder eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese muss auch noch fortbestehen zu dem Zeitpunkt der Auflösung.
5.2.4.2 Verhältnismäßigkeit der Auflösung
Analog zur Beschränkung muss die Auflösung verhältnismäßig sein (siehe 5.2.3.2). Hierbei ist zu beachten, dass nicht jeder Verstoß gegen eine Aufläge ein verhältnismäßiger Grund für eine Auflösung ist. Es muss eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegen, welche die Auflösung der Versammlung rechtfertigt.
Es muss wieder die Geeignetheit geprüft werden, welches wieder regelmäßig unproblematisch ist. Erforderlich (mildeste Mittel) ist die Auflösung häufig, wenn Beschränkungen nicht nachgekommen wurden. Zu prüfen ist dann noch, ob es angemessen ist. Also ob die Gefahr für die öffentliche Sicherheit so groß ist, dass sie ein so einschneidendes Eingreifen in das Versammlungsrecht rechtfertigt. Daher liegt bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Auflösung häufig der Fokus auf der Angemessenheit (wenn milderen Beschränkungen nicht nachgekommen wurde).
5.2.4.3 – 5.2.4.5 Zuständige Behörde, Begründung, Anhörung und Kooperation
Die Ausführungen zu den Beschränkungen gelten entsprechend.
Die Versammlung muss von der zuständigen Behörde aufgelöst worden sein (siehe 5.2.3.3).
Die Polizei ist natürlich weiterhin der Kooperation verpflichtet und eine Anhörung muss immer noch stattfinden, ein zuwiderhandeln ist weiterhin ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (siehe 5.2.3.4).
Die Auflösung muss auch begründet sein und den Versammlungsteilnehmer*innen bekannt gegeben werden (siehe 5.2.3.5) .
5.2.4.6 Anwesenheit nach Auflösung
Deine Anwesenheit muss auch nach der Auflösung bewiesen sein. Häufig gibt es in der Akte keine Fotos, die das belegen.
5.2.4.7 Zeit gelassen für Bedenkzeit und Banner einrollen etc.
Dir muss nach der Auflösung eine Bedenkzeit eingeräumt werden und Zeit gelassen werden deine Versammlungsmaterialien einzupacken (§29 Rn.4 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders).
5.2.5 Vorsatz
Du musst vorsätzlich gehandelt haben (§10 OWiG). Das heißt, du musstest die wesentlichen Umstände kennen und hast es zumindest billigend in Kauf genommen, gegen die Auflage zu verstoßen. Der wesentliche Punkt für uns ist, dass du die Auflösung mitbekommen haben musst. In der Regel musst du die Auflösungsdurchsage gehört haben. Andere Wege, die Auflösung mitzubekommen, sind aber auch möglich. Beispielsweise indem es dir eine Polizist*in sagt.
Falls du nach der finalen Durchsage nicht mehr rausgelassen wurdest (innerhalb der Bedenkzeit), dann wolltest du nicht gegen die Auflage verstoßen. Dann fehlt es am „Wollens“-Teil des Vorsatzes.
5.3 Nach dem Prozess (Rechtsmittel)
Nach deinem Prozess teile uns gerne das Ergebnis deines Verfahrens mit. Da vermutlich viele Menschen dasselbe Verfahren haben, sammeln wir zu den einzelnen Aktionen die Ausgänge. Teile uns gerne auch die Gründe für den Ausgang mit und einen kurzen Bericht zu deiner Erfahrung mit der Richter*in (legal@raz-ev.org). Falls du ein Urteil bekommst und wir es geschwärzt nutzen dürfen, schicke uns dies auch gerne.
Du hast das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde. Es ist mit der Revision aus dem Strafrecht vergleichbar. Bei einer Geldbuße von unter 250€ muss die Zulassung beantragt werden. Wie bei der Revision muss die Begründung von einer Verteidiger*in (Rechtsanwalt oder nach §138 StPO zugelassene Verteidiger) unterschrieben werden. Die Kosten für das Verfahren sind 55€ (oder 10% der Buße, je nachdem was höher) für ein Verfahren ohne Hauptverhandlung oder 110€ (oder 20% des Bußgeld) für ein Verfahren gegen ein Urteil, wenn eine Hauptverhandlung angesetzt wird (Anlage 1 zum GKG, Teil 4, Abschnitt 4). Ob eine Verhandlung angesetzt wird, richtet sich nach §79 V OWiG, wobei eine Verhandlung ohne Hauptverhandlung die Regel sein dürfte. Das größere Problem dürfte sein, die Begründung von einer Verteidiger*in, wenn dies durch eine Rechtsanwält*in erfolgt kommen hier deutlich höhere Kosten zustande, als die Verfahrenskosten. Daher lohnt es sich nur, wenn es sehr konkrete Punkte gibt, die nicht vom Gericht beachtet wurden. Du hast 1 Woche Zeit Rechtsbeschwerde einzulegen und dann 1 Monat nach Übersendung des Urteils eine Begründung durch eine Verteidiger*in einzureichen. Ähnlich wie bei der Revision wird es sich leider nur in Ausnahmefällen lohnen, das Verfahren so weit zu führen.
Die konkreten Schritte sind also:
- Binnen einer Woche nach Urteilsverkündung:
- Einlegen der Rechtsbeschwerde
- Stellen des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde
- Binnen einem Monat nach Zustellung des schriftlichen Urteils:
- Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde unterschrieben von einer Verteidiger*in
- Begründung der Rechtsbeschwerde unterschrieben von einer Verteidiger*in
- Das kann wie hier auch im gleichen Schreiben erfolgen
6. Rechtfertigender Notstand §16 OWiG
Wie auch im Strafrecht, gibt es den rechtfertigenden Notstand bei Owi’s (16 OWiG). Auch hier sind die Aussichten, dass du wegen des Vorliegen eines rechtfertigen Notstandes freigesprochen wirst, gering, aber es ist ein sehr guter Weg, die Klimakrise und die Effektivität von Aktivismus in den Prozess zu integrieren. Wenn es dein Hauptziel ist, im Prozess darzulegen, wie dramatisch die Klimakatastrophe ist und die Effektivität des Aktivismus in den Mittelpunkt stellen willst, kannst du es gut machen, indem du über den rechtfertigenden Notstand redest. Er ist identisch zum Strafrecht.
Die wesentliche Punkte sind:
Notstandslage: Es muss (durch die Klimakrise) eine gegenwärtige Gefahr für das Leben (oder andere Rechtsgüter) vor dir oder anderen geben. Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn der Eintritt eines Schadens (oder eine Vertiefung des Schadens) zu befürchten ist, wenn nicht jetzt Abwehrmaßnahmen getroffen werden. Unter dem Punkt kannst du anbringen, wie die Lage um die Klimakatastrophe ist und warum jetzt (mehr) Gegenmaßnahmen nötig sind. Von der Notstandslage kann man relativ häufig die Gerichte überzeugen.
Notstandshandlung: Deine Handlung muss geeignet und erforderlich sein, um die Gefahr abzuwehren (oder zu mildern). Hier musst du darlegen, dass der Aktivismus wirkt und andere Aktivismusformen nicht den nötigen Wandel herbeigeführt haben. Bei der Geeignetheit und Erforderlichkeit steigen die Gerichte in der Regel aus.
Wesentliches Überwiegen: Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen. Hier kannst du darlegen, wie gravierend die Folgen der Klimakatastrophe sein werden und wie im Verhältnis dazu eine Beeinträchtigung des Verkehrs hinnehmbar ist.
Angemessenheit: Dein Verhalten darf keinen übergeordneten Wertungen der Rechts- und Verfassungsordnung entgegenstehen, sonst wäre es kein unangemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. Diesen Punkt gibt es im Wesentlichen, um Verhalten gegen besondere Rechtsgüter zu schützen (z.B.: erzwungene Blutspende).
Notstandswille: Du musst Kenntnis der rechtfertigenden Umstände (Kenntnis über Klimakatastrophe) und zur Gefahrenabwehr (wolltest Klimakatastrophe abwehren) gehandelt haben.
Wenn du möchtest kannst du deine Argumentation mit Beweisanträgen unterfüttern. Du findest Beispiele im RAZ Wiki unter Beweisanträge. Im Ordnungswidrigkeitsverfahren hat es das Gericht etwas leichter Beweisanträge abzulehnen, da es dabei den Umfang der Beweisaufnahme selbst bestimmen darf und dabei die Bedeutung der Sache berücksichtigen darf (77 OWiG).
7. Mögliche Vorwürfe
Es gibt einige verschiedene Vorwürfe, die dir vorgeworfen werden können. (Fast) alle haben gemeinsam, dass die Versammlung korrekt aufgelöst worden sein muss. Ein paar sind hier exemplarisch aufgeführt.
Berlin:
- §27 Nr. 5 VersFGE BE zuwiderhandlung gegen Verfügung oder Auflösung als Teilnehmer der Versammlung
- §27 Nr. 8 VersFGE BE Anwesenheit trotz erfolgter Auflösung der Versammlung
- Länder ohne eigenes Versammlungsgesetz:
- § 29 I Nr. 2 VersG nicht entfernen trotz Auflösung
- § 29 I Nr. 3 VersG nicht nachkommen einer vollziehbaren Auflage
Anmerkung zur Pflicht sich zu entfernen bei Aufzügen
Gilt nur im Versammlungsgesetz des Bundes:
Bei Aufzügen (Versammlungen, bei denen eine Strecke gelaufen wird) ergibt es die Pflicht, sich nach der Auflösung zu entfernen, nicht schon aus dem Gesetz. §18 I VersG gilt nur für (stationäre) Versammlungen. Für Aufzüge gilt §19 VersG. Daher muss bei Aufzügen die Pflicht, sich zu entfernen, von der Polizei angeordnet werden. “Die Entfernungspflicht muss bei Aufzügen mit einer entsprechenden Anordnung in der Auflösungsverfügung verbunden werden. §29 Abs. 1 Nr. 2 begründet nicht die Pflicht, sich nach Auflösung zu entfernen, sondern setzt diese Pflicht voraus.[...]Die Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung ist objektive Bedingung der Ahndbarkeit." (vgl VerG- Dietel/Gintzel/Kniesel §29 Rn 7). In Berlin und anderen Landesversammlungsgesetzen gibt es diese Unterscheidung zwischen Aufzug und Versammlung nicht.
Platzverweis
In manchen Bundesländern ist der Bruch eines Platzverweises eine Ordnungswidrigkeit. Der Platzverweis beruht darauf, dass die Versammlung richtig aufgelöst wurde, da dir sonst kein Platzverweis erteilt werden darf (Polizeifestigkeit des Versammlungsrechtes). Daher ist auch hier die Rechtmäßigkeit der Auflösung zu prüfen. Dazu kommt, dass der Platzverweis örtlich und zeitlich aufs notwendige Maß beschränkt sein muss. Ein Platzverweis für die gesamte Innenstadt ist unter Umständen zu weitläufig und daher eventuell rechtswidrig.
§ 113 OWiG Unerlaubte Ansammlung:
Da die Auflösung die Versammlung zur Ansammlung macht, ist hier auch hier die korrekte Auflösung der Versammlung zu prüfen. “Der Tatbestand des §113 Abs 1 OWiG verlangt nach der Auflösungsverfügung, die die Versammlung zur Ansammlung werden lässt, eine dreimalige Aufforderung zum Sichtentfernen. [... Diese] müssen zeitlich abgesetzt ergehen und dürfen von den Adressaten nicht als Einheit begriffen werden.” (vgl VerG- Dietel/Gintzel/Kniesel §29 Rn 8)
8. Plädoyer - Beispiel
(aus Bremen von Roman, ohne Ausführungen zum Rechtfertigenden Notstand)
In Bremen gilt das Versammlungsrecht des Bundes. Punkte, die in verschiedenen Gesetzen verschieden sind, sind fett gedruckt. Verschieden ist nur die zuständige Behörde (Kapitel 9) und welcher Paragraph die Auflösung regelt (Berlin §14). Verjährung war leider in dem Verfahren nicht relevant.
Plädoyer:
Die Akte ist bei weitem nicht vollständig genug, um die Vorwürfe gegen den Beschuldigten zu begründen. Dies fängt bereits damit an, dass es in der Akte keine Fotos gibt, die überhaupt erstmal die Anwesenheit des Beschuldigten belegen.
Die nach §15 I VersammlG ergangenen Beschränkungen werfen auch mehrere Fragen auf. So gibt es in der Akte keine Hinweise darauf, worin die unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gelegen hat. Daher können wir auch nicht feststellen, ob die Beschränkung verhältnismäßig (geeignet, erforderlich und angemessen) war. Insbesondere können wir nicht nachvollziehen, warum eine einschneidende Maßnahme, wie die Beschränkung der Versammlung auf einen Fahrstreifen, nicht ausgereicht hätte.
Es findet sich in der Akte keine Angabe, wer die Beschränkung entschieden und verkündet hat. Daher können wir nicht überprüfen, ob der Mensch der zuständigen Behörde angehört hat (in Bremen Ortspolizeibehörde). Ebenso fehlt der Wortlaut der Beschränkung, sodass nicht überprüft werden kann, ob die Beschränkung begründet wurde.
Außerdem gibt es keine Information, dass die nach §28 I VwVfG (Verwaltungsverfahrensgesetz) notwendige Anhörung erfolgt ist. Informationen über ein Kooperationsgespräch sind genau so wenig ersichtlich. Anhaltspunkte für eine mögliche Gefahr im Verzug, welche die Anhörung entbehrlich gemacht hätte, sind ebenso nicht ersichtlich.
Die Auflösung nach §15 III VersammlG wirft auch einige Fragen auf. Auch hier gibt es keine Hinweise auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit, welche der Auflösung zugrunde liegen müsste. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ist ebenso wenig ersichtlich, wie eine besondere Lage, die eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausreichen lassen könnte (§15 Rn. 49 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders).
Ebenso wenig liegt uns der Wortlaut der Auflösung vor, daher kann nicht bewiesen werden, dass die Auflösung begründet wurde, wie es notwendig gewesen wäre (§15 Rn. 153 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders).
Die Auflösung erfolgte laut der Akte von der Polizeiführer*in, allerdings ist hier weder der Name noch die Polizeibehörde angegeben, bei der der Mensch arbeitete. Daher kann nicht überprüft werden, ob der Mensch der zuständigen Ortspolizeibehörde und damit der zuständigen Behörde angehört oder ob er einer anderen Stelle zugeordnet ist.
Mangels Angaben in der Akte lässt sich die Verhältnismäßigkeit der Auflösung nicht feststellen, insbesondere sind keine Hinweise in der Akte enthalten, dass sie Gefahr für die Öffentliche Sicherheit so gravierend war, dass die Auflösung der Versammlung angemessen war. Außerdem ist unklar, ob die Polizei dem Kooperationsgebot nachgekommen ist. Es gibt in der Akte keine Indizien dafür, dass ein Kooperationsgespräch oder Ähnliches stattgefunden hat. Eine erfolgreiche Kooperation ist immer das mildere Mittel gegenüber Beschränkungen, Verboten und Auflösungen. Daher ist die fehlende Bereitschaft der Polizei zur Kooperation ein Indiz für die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (§14 Rn.33 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders).
Nach der Auflösung der Versammlung muss eine angemessene Überlegungszeit den ehemaligen Versammlungsteilnehmer*innen eingeräumt werden (§29 Rn.4 Versammlungsrecht Düring-Friedl, Enders) und den ehemaligen Teilnehmer*innen muss Zeit eingeräumt werden, damit sie ihre Banner etc. einräumen können. Dafür, dass dies gewährt wurde, gibt es keine Indizien in der Akte.
Ebenso wie die Anwesenheit der Beschuldigten überhaupt, ist die Anwesenheit der Beschuldigten nach der Auflösung nicht belegt.
Dafür, dass die Auflösungsdurchsage von der Beschuldigten gehört werden konnte, gibt es ebenfalls keinen Anhaltspunkt. Daher kann nicht belegt werden, dass die Beschuldigte vorsätzlich gehandelt hat.
Zusammenfassend lässt sich sagen, es ist unklar, ob die beschuldigte Person überhaupt anwesend war und falls der Mensch anwesend war, ob der Mensch die Durchsagen wahrnehmen konnte. Die Rechtmäßigkeit der Auflösung wirft sehr viele Fragen auf. Die Rechtmäßigkeit der Anordnung ist Voraussetzung für die Sanktionierung und kann hier nicht festgestellt werden. Daher kann keine Sanktion getroffen werden. Die beschuldigte Person ist freizusprechen.
9. Zuständige Behörde in den Ländern
(aus Versammlungsrecht Dürig-Friedl, Endes; abgekürzt als Düring-Friedl). Stand 2022
Wer die zuständige Behörde im Sinne des Paragraphen, der die Auflösung regelt (Bund §15 VersammG, Berlin §14) ist, schwankt, von Bundesland zu Bundesland. Daher hier die Aufzählung
1. Baden-Württemberg
Verordnung des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem Versammlungsgesetz (VerGZuV) vom 25.Mai 1977:
Nach §1I sind für die Durchführung des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge die Kreispolizeibehörden zuständig, soweit nach §1 II VerGZuV iVm §3 II S. 2 VersammlG das Innenministerium als oberste Landesbehörde zuständig ist und soweit nicht der Polizeivollzugsdienst die polizeilichen Aufgaben wahrnimmt.
2. Bayern
Zuständige Behörde ist die Kreisverwaltungsbehörde. Ab Beginn der Versammlung und in unaufschiebbaren Fällen kann auch die Polizei Maßnahmen treffen (Art. 24 BayVersG).
3. Brandenburg
Verordnung zur Übertragung der Zuständigkeiten nach dem Versammlungsgesetz (ZustVO VersammG) v. 29. Oktober
Zuständige Behörde nach §2 III, §5, §14, §15 und §17a des Versammlungsgesetzes und §1 II des Gräberstätten-Versammlungsgesetzes ist das Polizeipräsidium.
4. Berlin
Die Polizei ist sachlich und örtlich zuständig für die Durchführung des Gesetzes (§31 VersFG BE).
5. Bremen
Verordnung über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden nach dem Versammlungsgesetz (VersammlGZustV):
Zuständige Verwaltungsbehörde nach §14 I, §15 I, §17a III und IV sowie §18 II des Versammlungsgesetzes sind die Ortspolizeibehörden. Die zum erscheinen mit Waffen zu einer öffentlichen Versammlung oder einem Aufzug nach §2 III des Versammlungsgesetzes erforderlichen behördlichen Ermächtigungen erteilen soweit es sich um Veranstaltungen handelt, bei denen es herkömmlichen Brauch entspricht, Waffen mitzuführen, die Ortspolizeibehörden, in den übrigen Fällen der Senator für Inneres und Sport. Oberste Landesbehörde nach §3 II S.2 des Versammlungsgesetz ist die Senatorin bzw. Senator für Soziales, Kinder Jugend und Frauen.
6. Hamburg
Anordnung über Zuständigkeiten um Versammlungsrecht und öffentlichen Vereinsrecht.
Zuständig für die Durchführung des Versammlungsgesetzes in seiner jeweiligen Fassung sowie entgegennahme von Anträgen nach §2 des Bannkreisgesetzes ist die Behörde für Inneres und Sport als oberste Landesbehörde nach §3 II des Versammlungsgesetzes und nach §3 II und §4 I des Vereinsgesetzes.
7. Hessen
Verordnung zur Durchführung des Hessischen Gesetzes für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und des Hessischen Freiwilligen-Polizeidienst-Gesetzes (HSOG-DVO):
§1 I Nr. 2 bestimmt die Zuständigkeit der allgemeinen Ordnungsbehörden für das Versammlungswesen mit der der Maßgabe, dass in Gemeinden unter 7500 Einwohnern die Kreisordnungsbehörde zuständig ist.
8. Mecklenburg- Vorpommern
Landesverordnung über die zuständigen Behörden nach dem Versammlungsgesetz (VersG-ZustVO) v. 21. Juni 1994
§2: Landräte, Kreisordnungsbehörde und Oberbürgermeister der kreisfreien Städte sind sachlich zuständige Behörden nach dem Versammlungsgesetz.
9. Niedersachsen:
Zuständige Behörde ist vor Versammlungsbeginn die untere Versammlungsbehörde und nach Versammlungsbeginn die Polizei (§24 NVersG).
10. Nordrhein- Westfalen
Zuständige Behörde ist die Kreispolizeibehörde. Örtlich zuständig ist die Kreispolizeibehörde, in deren Bezirk die Versammlung stattfindet (§32 VersG NRW).
11. Rheinland- Pfalz
§77 Polizei und Ordnugsbehördengesetz (POG):
Polizeipräsidien als Vollzugspolizei zuständig, wenn das Versammlungsgesetz von Polizei spricht. Ansonsten gemäß §91 POG, §90 POG, iVm §2 Nr. 9 der Landesverordnung über die Zuständigkeit der allgemeinen Ordnungsbehörden (RhPfOrdBehZV) die örtlichen Kreisordnungsbehörden zuständig für die Durchführung der Aufgaben der zuständigen Behörde nach dem Versammlungsgesetz; dies gilt nicht in der großen kreisangehörigen Stadt; diese ist selber zuständig.
12. Saarland
Verordnung über Zuständigkeiten nach dem Versammlungsgesetz:
§1: zuständige Behörde für die Durchführung des Versammlungsgesetzes, die Landräte als untere staatliche Verwaltungsbehörde, in der Landeshauptstadt Saarbrücken und in den kreisfreien Städten die Oberbürgermeister sind. In unaufschiebbaren Fällen kann die Vollzugspolizei die notwendigen Maßnahmen treffen.
13. Sachsen
§32 SächsVersG (sachliche Zuständigkeit)
Kreispolizeibehörden sind sachlich zuständig für die Durchführung dieses Gesetzes, soweit in Absatz 2 nichts anderes bestimmt ist.
Kreispolizeibehörde ist insbesondere zuständig für:
[...] 2. Verbot von Versammlungen[...]
4. Verbot und Auflösung von Versammlung
Der Polizeivollzugsdienst ist sachlich zuständig für
[...] 3. Auflösung von Versammlungen und Aufzügen nach §13 I und §15 III, iV[...]
[...] Ausschluss von Teilnehmer*innen nach §18 III und §19 IV
Die Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes nach §2 III des sächsischen
Polizeivollzugssdienstgesetzes bleibt bleibt unberührt.
§ 33 SächsVersG örtliche Zuständigkeit
§33I: Örtlich zuständig ist die Kreispolizeibehörde, in deren Bezirk die Versammlung oder der Aufzug stattfindet.
Erläuterung aus Düring-Fried:
Grundsatz bei sachlicher Zuständigkeit: Kreispolizeibehörde v.a. zuständig vor Beginn
Polizeivollzugsdienst v.a.nach Beginn der Versammlung
Problematisch ist, dass sich die Zuständigkeit für die Auflösung der Versammlung überschneidet. Nach dem Wortlaut des §32 I und IV SächsVerG ist die Versammlungsbehörde und nach §32 II und III SächsVersG die Polizei für die Auflösung von Versammlungen zuständig. Vermutlich handelt es sich um ein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers. Da die Zuständigkeit nach I ihrem Wortlaut nach Vorraussetzt, dass keine Zuständigkeit nach II besteht, ergibt eine Auslegung nach Sinn und Zweck der Regelung, dass vorrangig die Vollzugspolizei nach II Nr. 3 für die Auflösung zuständig ist (Düring-Friedl, Anhang 1 Randnummer 9,10).
14. Sachsen Anhalt
Verordnung über die Zuständigkeit auf verschiedenen Gebieten der Gefahrenabwehr (ZustVo SoG):
§1 zuständig für die Aufgaben nach dem Versammlungsrecht die Landkreise und kreisfreie Stadt Dessau-Roßlau, die jeweilige Polizeidirektion anstelle der kreisfreien Städte Halle und Magdeburg und die jeweilige Polizeidirektion anstelle der Landkreise und der kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau.
15. Schleswig-Holstein
§27 VersFG SH
(1) Die Landrätinnen und Landräte und die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der kreisfreien Städte als Kreisordnungsbehörden sind sachlich zuständig für Versammlungen unter freiem Himmel (§ 3 Absatz 3, § 11 Absatz 1, § 13 Absätze 1, 4, § 14 Absätze 1, 2).
(3) Örtlich zuständig ist die Behörde, in deren Bezirk die Versammlung stattfindet. Berührt eine Versammlung unter freiem Himmel den Zuständigkeitsbereich mehrerer Kreisordnungsbehörden, kann die gemeinsame Fachaufsichtsbehörde eine zuständige Behörde bestimmen.(5) In unaufschiebbaren Fällen kann die Polizei auch an Stelle der zuständigen Behörde Maßnahmen treffen.
16. Thüringen
Thüringer Verordnung zur Bestimmung von Zuständigkeiten im Geschäftsbereich des Innenministeriums (InMinZustV TH 2008)
§15 für Versammlungswesen sind die Landkreise und kreisfreien Städte im übertragenen Wirkungskreis, des Landesverwaltungsamt in überörtlichen Fällen und in unaufschiebbaren Fällen die im Vollzugsdienst tätigen Dienstkräfte der Polizei für Entscheidungen nach dem §5, 15, 17a des Versammlungsgesetzes. Die Polizei im Sinne des §9 II, §13 I, §18 III und §19 IV des Versammlungsgesetzes sind die im Vollzugsdienst tätigen Dienstkräfte.